Im Namen des Volkes – Wie viele Gebote braucht ein Land?

    Im Namen des Volkes

    Schräge Geschichten aus Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung

    In seiner Kolumne „Im Namen des Volkes“ teilt Ralf Sikorski mit unseren Leserinnen und Lesern Auszüge aus der Neuauflage seines gleichnamigen Buches

    Ich heiße Ralf Sikorski und Sie herzlich willkommen.

    Wenn Sie diese Zeilen lesen, dann sind Sie hoffentlich auch alt genug, um die schonungslose Wahrheit über die Rechtswissenschaften unseres Landes zu akzeptieren. Zum Beispiel die Wahrheit über die immer wiederkehrende Mär von der Reform zur Steuervereinfachung. Oder die Wahrheit über die nie enden wollende Rentenreform. Oder die Wahrheit über die nicht ernsthaft gewollte Gesundheitsreform. Oder, oder, oder. Die Liste ist lang. Aber Reformen in Deutschland? „Jede Reform, wie notwendig sie auch sein mag, wird von schwachen Geistern so übertrieben werden, daß sie selbst der Reform bedarf.“ (Samuel Tylor Coleridge, 1772–1834, englischer Literaturkritiker).

    Regelungswut und Detailverliebtheit
    Ursache dafür ist die unendliche Regelungswut gerade der Deutschen, die alles, was geregelt werden kann, auch wirklich regeln wollen – und zwar bis ins kleinste Detail. Und die Abschaffung eines für den Bürger nachteiligen Gesetzes scheint in unserer „Lobbykratie“ schlicht nicht möglich zu sein. So wird die unter Kaiser Wilhelm II. zum 01.07.1902 ins Leben gerufene Schaumweinsteuer zur Finanzierung einer deutschen Kriegsmarine heute noch erhoben, und kaum jemand weiß davon. Man hat wohl bei Gründung der Bundesrepublik schlicht vergessen, diese Steuer aufzuheben. Und wenn man sich dann die Ausstattung unserer aktuellen Bundeswehr im Allgemeinen und der deutschen Marine im Besonderen einmal so ansieht, kommen einem dann doch erhebliche Zweifel, ob all die Steuertaler, die wir mit jedem Glas Sekt in die Bundeskasse spülen, denn auch wirklich dort ankommen. Nie war unser Land so reich wie heute, nie sprudelten die Steuereinnahmen so hoch wie in den letzten Jahren. Aber statt den Bürgern zu geben, was den Bürgern gehört, werden keine Steuererleichterungen geschaffen, sondern es wird starr an alten Zöpfen festgehalten oder gar neue Abgaben ins Spiel gebracht.

    Genauso verhält es sich mit Gesetzen in anderen Rechtsgebieten. Allein die Festlegung geänderter Kassenbeiträge als „Gesundheitsreform“ oder „Rentenreform“ zu benennen, kann man nur als Euphemismus bezeichnen. Von ernsthaften Reformen im Sinne der Definition des Dudens sind wir in allen Bereichen weit entfernt. In allen Rechtsgebieten wünschen sich die Betroffenen selbst die Abschaffung der einen oder anderen Rechtsvorschrift, aber eben nur die Betroffenen selbst. Denn überall gibt es Ministerialdirigenten, die in ihren Abteilungen wichtige Paragraphen (nicht etwa ein ganzes Gesetz) betreuen. Was würden sie machen, wenn es diese Vorschriften nicht mehr gäbe? Und dann gibt es Verbände und Kammern, deren Wohl und Daseinsberechtigung es ist, ihre Mitglieder durch den Dschungel der Paragraphenwelt zu führen. Was würden diese Organe machen, wenn es diesen Dschungel gar nicht gäbe? Von all den Professoren an unseren unzähligen und selbstständigen Universitäten und Großkanzleien einmal zu schweigen.

    Vorschriften als Geschenk des Gesetzgebers an die Wissenschaft?
    Und da Gesetze allein ja nicht reichen, um eine Gesellschaft zu reglementieren, gibt es da noch unzählige Verwaltungen und Gerichte, die beschäftigt werden müssen. Und dann schreiben Richter Urteile zu komplizierten Rechtsnormen und glauben ernsthaft, dass die zugrunde liegenden Gesetze zu ihrem Fachgebiet ein Geschenk des Gesetzgebers an die Wissenschaft sind und nicht etwa notwendige Normen des Zusammenlebens in der Gesellschaft. Schon der französische Staatstheoretiker Jean Bodin (1529-1596) wusste, dass ein Staat stetig wächst, unmerklich und meist sogar ohne Absicht. Wir lassen uns ständig neue Normen einfallen, hinterfragen aber nie, ob wir nicht einmal auch ein paar alte Regelungen einfach über Bord werden können.

    Und da es bekanntermaßen komplizierter ist, Kompliziertes zu vereinfachen als Einfaches zu komplizieren, werden wir noch lange auf Reformen zur Vereinfachung unserer Rechtssysteme und insbesondere unseres Steuerrechts warten müssen. Und alle Betroffenen wissen, dass die Idee, mit der Weiterentwicklung der Künstlichen Intelligenz eine Vereinfachung der Handhabung unserer Besteuerungsvorschriften zu erreichen, ein Irrglaube ist. Mir persönlich würde in unserer Gesetzgebungspolitik schon natürliche Intelligenz reichen.

    Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht
    Diese Lew Tolstoi (russischer Schriftsteller, 9.9.1828-20.11.191), zugeschriebene Aussage lässt sich auf alle Rechtsbereiche in Deutschland übertragen. Wie heißt es so schön in einer Erläuterung des Wirtschaftsministeriums zum Zollrecht:

    „Ausfuhrbestimmungen sind Erklärungen zu den Erklärungen, mit denen man eine Erklärung erklärt.“

    Klar soweit?

    Land der Dichter und Denker
    Und dann gibt es Richter, denen die alleinige Anwendung öder Vorschriften zu langweilig ist. So gesehen kann es den Praktiker doch nicht verwundern, dass Richter ernsthaft Urteile in Versform erlassen, und das gar nicht mal so selten. Dem Vorurteil, dass Ostwestfalen eher nicht dafür bekannt ist, überproportional viele Stimmungskanonen zu beheimaten (widerlegt durch die Online-Studie der Universität Jena vom 3.9.2018 „Die psychologische Deutschlandkarte), trat ein Richter des Amtsgerichts Höxter mit aller Entschiedenheit entgegen. Sein Urteil in Versform ist absolut lesenswert (AG Höxter vom 21.6.1995, 8 Cs 47 Js 655/95):

    „Der Angeklagte wird wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30,– DM verurteilt. Ihm wird die Fahrerlaubnis entzogen.“

    Und jetzt kommen die Urteilsgründe:

    „Am 03.03.95 fuhr mit lockerem Sinn
    Der Angeklagte in Beverungen dahin.
    Daheim hat er getrunken, vor allem das Bier,
    und meinte, er könne noch fahren hier.
    Doch dann wurde er zur Seite gewunken.
    Man stellte fest, er hatte getrunken.
    Im Auto tat’s duften wie in der Destille.
    Die Blutprobe ergab 1,11 Promille.
    Das ist eine fahrlässige Trunkenheitsfahrt,
    eine Straftat, und mag das auch klingen hart.
    Es steht im Gesetz, da hilft kein Dreh,
    § 316,1 und II StGB.
    So ist es zum Strafbefehl gekommen.
    Auf diesen wird Bezug genommen.
    Der Angeklagte sagt, den Richter zu rühren:
    ‚Das wird mit in Zukunft nicht wieder passieren!‘
    Jedoch muß eine Geldstrafe her,
    weil der Angeklagte gesündigt, nicht schwer.
    30 Tagessätze müssen es sein
    Zu 30,- DM. Und wer Bier trinkt und Wein,
    dem wird genommen der Führerschein.
    Die Fahrerlaubnis wird ihm entzogen,
    auch wenn man menschlich ihm ist gewogen.
    Darf er bald fahren? Nein, mitnichten.
    Darauf darf er längere Zeit verzichten.
    5 Monate Sperre, ohne Ach und Weh,
    §§ 69, 69a StGB.
    Und schließlich muß er, da hilft kein Klagen,
    die ganzen Verfahrenskosten tragen,
    weil er verurteilt, das ist eben so,
    § 465 StPO.“

    Ich freue mich, in den nächsten Wochen auch weitere Anekdoten mit Ihnen teilen zu können. Und wenn das Lesen dieser Zeile Sie nachdenklich gemacht hat, ob Sie den richtigen Beruf ergriffen haben, denken Sie an ein Urteil des Finanzgerichts Köln, das ausgeführt hat, dass „die Tätigkeit eines Steuerberaters auch vornehmlich zum Zwecke der Befriedigung persönlicher Neigungen betrieben werden kann.“ (FG Köln vom 19.5.2010, 10 K 3679/08). Und das sollte uns wieder aufbauen, nicht wahr?


    Über Ralf Sikorski
    Dipl.-Finanzwirt Ralf Sikorski war viele Jahre Dozent an der Fachhochschule für Finanzen in Nordrhein-Westfalen mit den Schwerpunkten Umsatzsteuer und Abgabenordnung und anschließend Leiter der Betriebsprüfungsstelle in einem Finanzamt. Seine Dozentenrolle nahm er daneben als Unterrichtender in Steuerberaterlehrgängen und Bilanzbuchhalterlehrgängen wahr, heute ist er noch in zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen tätig, u. a. in den sog. Bilanzbuchhalter-Updates. Darüber hinaus hat er sich als Autor unzähliger steuerlicher Lehr- und Praktikerbücher insbesondere zu den o. g. Fachbereichen und Herausgeber eines Kommentars zur Abgabenordnung einen Namen gemacht. Seine Stilblütensammlungen „Meine Frau ist eine außergewöhnliche Belastung“, „Wo bitte kann ich meinen Mann absetzen“, „Ich war Hals über Kopf erleichtert“ und ganz aktuell „Im Namen des Volkes“ sowie das Märchenbuch „Von Steuereyntreibern und anderen Blutsaugern“ runden sein vielfältiges Tätigkeitsbild ab.

    Hinweis:
    Die Illustration stammt von Philipp Heinisch, der seine Anwaltsrobe 1990 an den Nagel hängte und Zeichner, Maler und Karikaturist wurde (www.kunstundjustiz.de).

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