Im Namen des Volkes – Im Anfang war das Wort

    Im Namen des Volkes

    Schräge Geschichten aus Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung

    In seiner Kolumne „Im Namen des Volkes“ teilt Ralf Sikorski mit unseren Leserinnen und Lesern Auszüge aus der Neuauflage seines gleichnamigen Buches

    Ich heiĂźe Ralf Sikorski und Sie herzlich willkommen.

    „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ (Johannes, Kapitel 1). Und Gott hat den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse in den Garten Eden gestellt: „Du sollst essen von allen Bäumen des Gartens; aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn welchen Tages du davon issest, musst du unbedingt sterben!“ (Mose, Vers 2, Kapitel 16).
    Wir wissen heute, dass Adam und Eva zwar nicht sterben mussten, nachdem sie das einzige Gesetz, das seinerzeit angeblich im Paradies galt, übertreten hatten, sondern nur verbannt wurden. Aber wir wissen heute auch, dass die gegessene Frucht nicht angetan war, den Menschen die erhoffte Erkenntnis auch zu bringen, was die Gesetzesübertretung aus heutiger Sicht ziemlich überflüssig aussehen lässt. Und wir wissen heute auch, dass der Mensch selbst – offenbar im Wissen darüber, dass eine Vielzahl seiner Art schlicht danach giert, Gesetze zu übertreten – deutlich mehr Erfindungsreichtum beim Schaffen von Vorschriften hat als Gott selbst. Der bringt es gerade mal auf zehn Gebote.

    Erfindung der Schrift als erster Schritt zur modernen Gesetzgebung
    Mit der Erfindung der Schrift läutete die Menschheit das Ende der Steinzeit ein, es begannen die sogenannten Hochkulturen. Und mit der Ausbildung der Schrift im Altertum nahmen wohl letztendlich die Gesetzgebung und die Bürokratisierung ihren Anfang. Hätte der Mensch nicht schreiben gelernt, gäbe es heute keine Gesetze, keine Verwaltungsanweisungen, keine Urteile, keine behördlichen Vordrucke – und vor allem keine Steuererklärungen.
    Und wie der Mensch im Laufe der Zeit gelernt hat, sich schriftlich mit Worten auszudrücken: Während Gott – als er sich später aufgrund seiner einschlägigen Erfahrung mit dem Ungehorsam der Menschen darauf besonnen hat, dass man Vorschriften durchaus auch mal schriftlich niederlegen kann – für die Zehn Gebote noch mit 81 Wörtern auskam, benötigten die Väter der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung schon allein für die Präambel 201 Wörter. Aber die Entwicklung ist bekanntlich nicht aufzuhalten. Und so hat heute allein Paragraf 20 des deutschen Einkommensteuergesetzes mehr als 2 600 Wörter. Welch ein Fortschritt!

    Komplizierte Gesetze sind der Preis fĂĽr unsere moderne Zivilisation
    Natürlich sind dem Gesetzgeber im Laufe der Zeit immer feinere Formulierungen für sein Ansinnen eingefallen, um alles, aber auch wirklich alles, was im Leben passieren könnte, zu regeln und nichts dem Zufall zu überlassen. Und wer glaubt, dass dieser Regelungswahn eine Erfindung der Neuzeit sei, der irrt sich gewaltig, wie ein Blick ins 1896 geschaffene und am 1.1.1900 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) zeigt. Und die hier genannten Vorschriften sind immer noch gültig.

    § 961 BGB – Eigentumsverlust bei Bienenschwärmen
    Zieht ein Bienenschwarm aus, so wird er herrenlos, wenn nicht der EigentĂĽmer ihn unverzĂĽglich verfolgt oder wenn der EigentĂĽmer die Verfolgung aufgibt.

    § 962 BGB – Verfolgungsrecht des Eigentümers
    Der Eigentümer des Bienenschwarms darf bei der Verfolgung fremde Grundstücke betreten. Ist der Schwarm in eine fremde nicht besetzte Bienenwohnung eingezogen, so darf der Eigentümer des Schwarms zum Zwecke des Einfangens die Wohnung öffnen und die Waben herausnehmen oder herausbrechen. Er hat den entstehenden Schaden zu ersetzen.

    Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu wissen, dass ein Imker, der einen fremden Schwarm auf einem noch fremderen Grundstück entdeckt, dieses Grundstück dagegen nicht betreten darf. Zum Einfangen dieses Schwarms ist daher vorher unbedingt das Einverständnis dieses Grundstückseigentümers einzuholen. Hier werden vom Gesetzgeber Probleme gelöst, die jeder von uns im täglichen Leben schon einmal erlebt hat, oder?

    § 963 BGB – Vereinigung von Bienenschwärmen
    Vereinigen sich ausgezogene Bienenschwärme mehrerer Eigentümer, so werden die Eigentümer, welche ihre Schwärme verfolgt haben, Miteigentümer des eingefangenen Bienenschwarms; die Anteile bestimmen sich nach der Zahl der verfolgten Schwärme.

    Diese „Vereinigung“ von Bienenschwärmen, die dafür sorgt, dass eine Miteigentümergemeinschaft wider Willen entsteht, darf nicht verwechselt werden mit der „Vermischung“ von Bienenschwärmen. Denn dann wird man seiner Bienen verlustig.

    § 964 BGB – Vermischung von Bienenschwärmen
    Ist ein Bienenschwarm in eine fremde besetzte Bienenwohnung eingezogen, so erstrecken sich das Eigentum und die sonstigen Rechte an den Bienen, mit denen die Wohnung besetzt war, auf den eingezogenen Schwarm. Das Eigentum und die sonstigen Rechte an dem eingezogenen Schwarm erlöschen.

    Und ist eine Rechtsvorschrift noch so exotisch, taucht irgendwann im Laufe von 100 Jahren ein nicht für möglich gehaltenes Problem in der Praxis wirklich auf und löst tatsächlich ein Gerichtsurteil zu dem vom Gesetzgeber aufgeworfenen Problem aus, womit seine Daseinsberechtigung mit Verspätung bewiesen wird. So entschied das Amtsgericht Bad Homburg (Urteil vom 4.11.1998, 2 C 3193/97):

    „Es stellt keinen Reisemangel dar, wenn eine Ferienanlage für mehrere Stunden von einem Bienenschwarm heimgesucht wird.“

    Und das Landgericht Frankfurt sieht nicht einmal dann einen Mangel, wenn einer der Feriengäste von Bienen gestochen wird, weil Bienen nun einmal Teil unseres Lebens sind (Urteil vom 16.9.1999, 2/24 S 433/98):

    „Die Störung eines Club-Urlaubs durch einen plötzlich ausgebrochenen Bienenschwarm, der erst nach drei Stunden wieder eingesammelt werden kann, ist nicht als Reisemangel, sondern als Verwirklichung des allgemeinen Lebensrisikos zu werten. Dies gilt auch dann, wenn der Reiseteilnehmer an einer Bienenstichallergie leidet und von mehreren Bienen gestochen wird.“

    Man kann halt keinen Abenteuerurlaub buchen und sich später beklagen, dass dieser Urlaub wirklich mit einem Abenteuer verbunden war. Und unsere Vorfahren können sich rühmen, dass sie schon 1896 erkannt haben, dass es ein solches Problem einmal geben könnte und wir sind heute froh, dass sie es in weiser Voraussicht für uns seinerzeit schon aufgegriffen haben, denn ohne die genannten Vorschriften hätten die Schwärme wohl nie erfolgreich in der Ferienanlage eingefangen werden können.

    Moderne Zivilisation auch in unmittelbarer Nachbarschaft
    Aber auch unsere österreichischen Nachbarn, die das Bürgerliche Gesetzbuch ursprünglich im Großen und Ganzen von uns in der Vergangenheit als „Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch“ übernommen haben, zeigen viel Liebe zum Detail und scheuen sich nicht, Selbstverständlichkeiten zu regeln:

    § 929 ABGB
    Wer eine fremde Sache wissentlich an sich bringt, hat keinen Anspruch auf eine Gewährleistung.

    Schade eigentlich, denn auch als Dieb einer Sache kann man ja wohl erwarten, dass die Dinge, die man an sich nimmt, auch einwandfrei funktionieren, oder?

    Aber natĂĽrlich toppt das deutsche Original auch hier die Kopie:

    § 1591BGB
    Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat.

    Ich freue mich, in den nächsten Wochen auch weitere Anekdoten mit Ihnen teilen zu können. Und denken Sie immer daran, dass „die Tätigkeit eines Steuerberaters auch vornehmlich zum Zwecke der Befriedigung persönlicher Neigungen betrieben werden kann.“ (FG Köln vom 19.5.2010, 10 K 3679/08). Und diese Aussage lässt sich auf alle rechtsberatenden Berufe übertragen.


    Ăśber Ralf Sikorski
    Dipl.-Finanzwirt Ralf Sikorski war viele Jahre Dozent an der Fachhochschule für Finanzen in Nordrhein-Westfalen mit den Schwerpunkten Umsatzsteuer und Abgabenordnung und anschließend Leiter der Betriebsprüfungsstelle in einem Finanzamt. Seine Dozentenrolle nahm er daneben als Unterrichtender in Steuerberaterlehrgängen und Bilanzbuchhalterlehrgängen wahr, heute ist er noch in zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen tätig, u. a. in den sog. Bilanzbuchhalter-Updates. Darüber hinaus hat er sich als Autor unzähliger steuerlicher Lehr- und Praktikerbücher insbesondere zu den o. g. Fachbereichen und Herausgeber eines Kommentars zur Abgabenordnung einen Namen gemacht. Seine Stilblütensammlungen „Meine Frau ist eine außergewöhnliche Belastung“, „Wo bitte kann ich meinen Mann absetzen“, „Ich war Hals über Kopf erleichtert“ und ganz aktuell „Im Namen des Volkes“ sowie das Märchenbuch „Von Steuereyntreibern und anderen Blutsaugern“ runden sein vielfältiges Tätigkeitsbild ab.

    Hinweis:
    Die Illustration stammt von Philipp Heinisch, der seine Anwaltsrobe 1990 an den Nagel hängte und Zeichner, Maler und Karikaturist wurde (www.kunstundjustiz.de).

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